Forget-me-not
Vor etwa 100 Jahren erwarben meine Urgroßeltern in Hernals in Wien einen kleinen Grund. Es war zwischen den Kriegen, nur wussten sie das damals noch nicht. Der erste Weltkrieg lag hinter ihnen, der zweite war vermutlich bereits absehbar. Sie bauten sich ein kleines Holzhaus auf diesem Grund und nutzten den Garten. Es gab Hühner und Bienen, sie hatten nun Honig und viel Obst und sehr viele Kräuter und Gemüse. Sie konnten gut davon leben. Alles war neu und aufregend und sie waren stolz auf ihren Bereich. Sie pflanzten in einer Ecke des Gartens ein paar Vergissmeinnicht. Und diese Vergissmeinnicht gibt es bis heute. Jedes Jahr kommen sie wieder und das seit etwa 100 Jahren. Sie sind Zeug:innen der Welt, zumindest in oder aus ihrer Ecke dieses Gartens in Hernals. Eine Welt mit vielen Krisen. Krisen in Bezug auf Existenz von Menschen und Krisen wegen der Bewegung dieser. Die globale Migration begründet durch Krisen über Länder, Nationen, Gebiete und Grenzen, durch Sprache, Religion und Ethnie, durch Geschlecht und Sexualität, durch Freiheit, Reichtum und Ungleichheit, Krisen ausgelöst durch das vermeintlich Fremde. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, mit dem Fremden umzugehen, wenn es neu auf einen zukommt oder wir uns dorthin begeben oder uns plötzlich darin wiederfinden. Wir können das, was wir als fremd empfinden versuchen einzubeziehen, es als eine Erweiterung der eigenen Fähigkeiten erfahren, zu sehen, dass es uns neue Möglichkeiten eröffnet. Lernen das Fremde zu integrieren versetzt uns aber genau - zumindest während dieser Neuorientierung - in eine vorübergehende Krise, im Sinn einer Instabilität, die uns mit Angst und Aufregung reagieren lässt bzw. mit dem uns vertrauten chronischen Musters der Reaktionen auf Angst und Aufregung. Das bedeutet, es braucht eine gewisse Ausdauer und auch Mut für die Eigenarbeit der Integration von etwas Fremden. Eine andere Möglichkeit ist natürlich auch das Fremde abzulehnen und auszugrenzen. Eine solche Ausgrenzung verhindert grundlegend die Auseinandersetzung mit Neuem. Solange sich die interne Begegnung mit dem Fremden vermeiden lässt, stärkt es eventuell das Bestehende. Prinzipiell befinden wir uns in einer permanenten Differenzierung zwischen dem Fremdem und dem Eigenem, zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung, zwischen Krise und Vertrautem.
Intervention, Giardini Venedig
Biennale 2024, foreigners everywhere